Cathy Freeman soll in Sydney Gold über 400
Meter gewinnen und beweisen, dass die Lage der Aborigines gar nicht
so mies ist. Die Ikone der Nation erweist sich jedoch als
widerspenstig.
Was würde sie sagen, wenn sie etwas sagen dürfte? Wenn nicht
ständig all die Agenten und Anwälte, diese Geier, um sie kreisen
würden. Wenn Cathy Freeman nicht in diesen Spots von Nike auftreten
würde, in denen das australische Schlüsselwort "Sorry" fällt,
woraufhin sie fragt: "Können wir später darüber
reden?"
Wenn sie wirklich frei wäre, prophezeite schon Anfang des
Jahres Colin Tatz, ein Politikprofessor von der Macquarie-Universität,
dann würde Cathy Freeman sagen, was sie denkt, und das wäre: "Hey,
mir gefällt nicht, wie meine Leute behandelt werden." Oh, sie hätte
eine Menge zu sagen, vermutete Tatz damals, und das Resultat wäre
eine Revolution.
Mitte Juli war es so weit. Cathy
Freeman, 27, berühmteste Sportlerin Australiens und Weltmeisterin
über 400 Meter, lag auf einer Massagebank in England und gab ein
Interview. Sie war beinahe nackt, und deshalb war keiner der Geier
in der Nähe. Und darum sagte sie, dass die Regierung "unsensibel mit
den Themen umgeht, die den Menschen am Herzen liegen. Sie leugnet,
dass sie etwas falsch gemacht hat. Teile des Lebens von vielen
Menschen wurden gestohlen".
Diese Sätze lösten zwar keine Revolution aus, aber eine
Regierungskrise und Debatten auf allen Sendern, in allen Blättern.
Denn Cathy Freeman ist einerseits Aborigine, und andererseits soll
sie, das ist eine Art nationaler Auftrag, am 25. September Gold für
Australien gewinnen.
Was muss, soll, darf sie sonst noch? Den Mund halten, wie jene
Funktionäre meinen, die ihr prophylaktisch das Tragen der
Aborigines-Fahne bei der Ehrenrunde verboten haben? Oder und zwar
laut die Diskriminierung anprangern, wie die Bürgerrechtler
fordern, welche die Freeman für das perfekte Sprachrohr halten?
Cathy Freemans Problem ist, dass sie sich in einer Lage befindet,
die in Australien "no-win situation" heißt. Sie kann nur Fehler
machen. Nichts mehr genießen. Nicht einmal mehr scheinbar schwebend
die Stadionrunde laufen denn sie schleppt die Geschichte ihres
Kontinents mit. Und sie hat sich verheddert in dem Gestrüpp aus
Erwartungen und Schuldgefühlen und dem Chaos eines privaten
Problems, das zur falschen Zeit eskalierte und zur nationalen
Katastrophe wurde.
Die Läuferin hat sich "'cos I'm free" auf die rechte Schulter
tätowieren lassen. Doch frei ist sie längst nicht mehr. "Nur noch
sie steht für Sydney 2000", sagt David Rowe, Professor für
Sozialwissenschaften im australischen Newcastle, "denn sie soll eine
angeblich schmerzfreie Versöhnung von Schwarz und Weiß symbolisieren."
Das mache Cathy Freeman zur "nationalen Ikone", sagt der
Politikprofessor Tatz. Und als Ikone ist sie halb Hexe, halb
Heilige irgendwie für alles zuständig.
"Die Spiele werden sehr gewaltsam", sagt zum Beispiel Charles
Perkins, ein Aktivist der Aborigines, "wir werden der Welt zeigen,
dass Australien schmutzige Unterwäsche hat." Natürlich wünscht
Perkins, dass Freeman die Spiele boykottiert.
Darf eine Aborigine überhaupt in der australischen Mannschaft laufen?
"Ich bin für Einigkeit und Harmonie, Einheit und Verschiedenheit",
sagt Freeman hilflos.
Aber Boykott? "Boykotte funktionieren nie. Ich
habe nicht trainiert, um politisch aufzutreten, sondern um die
schnellsten 400 Meter meines Lebens zu laufen."
Auch der Boxer Anthony Mundine glaubt, "sie wird benutzt" von der
Regierung, vom Organisationskomitee der Spiele, von allen
Weichspülern, die den Kontinent nicht mit Reformen verändern,
sondern mit Werbesprüchen verkaufen wollen. "Jesse Owens stand gegen
Adolf Hitler auf", sagt Mundine, "Muhammad Ali warf seine
Goldmedaille wegen des Rassismus in den Fluss, und Tommie Smith und
John Carlos erhoben 1968 in Mexiko ihre Black-Power-Fäuste."
Wäre Cathy Freeman so, dann wäre sie eine Heldin. Doch schon das
Image, das ihre Sponsoren fördern, dieses Image einer
lebenshungrigen Frau, ist eine Lüge. Sie selbst nennt sich "ehrlich,
freigeistig, bestimmt, mutig und liebevoll", aber wer Freeman
während der europäischen Sportfeste in Oslo oder Monte Carlo
beobachtete, erlebte bloß ein stilles, verhuschtes Mädchen. "Sie ist
sehr schüchtern", sagte einer der Geier, "sie ist auf schon absurde
Weise gehemmt."
Darf also irgendwer verlangen, dass ausgerechnet jene Cathy Freeman
zur Märtyrerin wird, die schon so weit gelaufen ist?
Cathys Großmutter, Alice Sibley, gehörte zur "gestohlenen
Generation", zu den Kindern, die ihren Eltern geraubt wurden, weil
sich laut Plan der Regierung Aborigines und Weiße mischen und so die
Aborigines langsam verschwinden sollten. Cathys
Vater Norman spielt Rugby; er verlässt die Familie, als seine
Tochter fünf Jahre alt ist. Ein paar Dollar verdient Cathys Mutter
Cecelia als Putzfrau an der Schule von Mackay im Nordosten des
Landes, aber dann stellt sie den fünf Kindern ihren "neuen Papi" vor.
Das ist der Mann, der Cathy auf die Bahn bringt.
Bruce Barber sei keiner dieser fanatischen Väter gewesen, sagt sie,
denn er habe sie nur ermutigt: "Lauf, lauf, wenn du willst." Sie
rennt, er besorgt das Geld, und sie ist 11 Jahre alt, als sie
Meisterin von Queensland über 100 Meter, 200 Meter und im Hochsprung
wird. Sie ist 15, als sie ihren Lehrerinnen sagt, sie werde
Olympiasiegerin dass will sie sich nun, nach all den Jahren, nicht
nehmen lassen.
Damals ist sie nur talentiert, nicht fleißig. Sie fällt einem
30jährigen Sportreporter auf, der eine wie diese Ureinwohnerin mit
den vorgeschobenen Schultern und den gewaltigen Oberschenkeln noch
nie gesehen hat. Nick Bideau umgarnt sie, und obwohl ihre Mutter
klammert und keift, zieht Cathy mit dem Fremden, den sie "Prince
Charming" nennt, nach Melbourne.
Bideau sagt, dass sie das Laufen liebe, aber nicht das Berühmtsein,
und darum erledigt er alles für sie, was nichts mit dem Laufen zu
tun hat. Er wird Manager, Koch, Trainingspartner, Co-Trainer und
Liebhaber. Er wird der, der sie nach dem Zieleinlauf abfängt und
nicht mehr loslässt wir gegen alle, so funktioniert Team Freeman,
und so gewinnt Cathy in Atlanta Silber und in Athen ihre erste
Weltmeisterschaft. Doch dann, 1997, kollabiert Team Freeman.
Cathy findet Briefe, die Bideau der irischen
5000-Meter-Weltmeisterin Sonia O'Sullivan geschrieben hat, und das
Pikante daran ist, dass Cathy sich mit ihrer Freundin Sonia eine WG
teilt. Sie zieht wütend aus und kehrt reumütig zurück, aber da sind
schon die Schlösser ausgetauscht. Das alles ist nicht schön, und
richtig schmutzig wird es, als Sonia von Bideau schwanger wird und
Cathy sich mit Alexander Bodecker, Executive Manager bei Nike,
anfreundet und ihn in San Francisco schließlich heiratet. Denn nun
feuert Cathy ihren Geschäftspartner Bideau, und dann prügeln sich
der Ex und der Neue.
Zuerst will Cathy Freeman ja noch, dass Bideau, der für den Ruhm und
ein wenig Handgeld gearbeitet hatte, einen gerechten Anteil bekommt.
Aber dann erzählt der Gekränkte ein paar sehr fiese Dinge. Zum
Beispiel: "Ich konnte sie nicht alleine fliegen lassen. Sie würde
ans falsche Ende der Welt fliegen." Oder, und das ist der Höhepunkt:
"Man findet eine Menge eingeborene Athleten, die die Begabung zur
Selbstzerstörung haben." Niemand in Australien bezweifelt, dass er
Cathy Freeman und die Aborigines an und für sich meint.
Im Herbst werden sich die zwei vor Gericht treffen, denn Bideau will
50 Prozent aller Einnahmen. Und nun hoffen einige Weiße, dass die
schnelle Eingeborene sich selbst aus der Bahn geworfen hat und die
Aborigines fürchten, dass die Sabotage der Weißen wieder mal
funktioniert hat. Jede australische Zeitung fand einen Experten, der
schlau daherredete. Die Freeman ist größenwahnsinnig! Wie kann sie
nur, so kurz vor den Spielen! "Nick hat sie schnell gemacht", sagt
der Fernsehkommentator Bruce McAvaney. Was soll sie wert sein ohne
ihre Vaterfigur?
Vielleicht, das wäre das Happy End, mehr denn je. Es ist einer der
wenigen Momente in Monte Carlo, in denen Cathy Freeman jemandem in
die Augen blickt, der ihr eine Frage gestellt hat. Die Frage war, ob
sie nicht Angst habe, zerquetscht zu werden in diesem Wust aus
Vaterland und Trennungskrieg. Sie erzählt von Los Angeles, wo sie
mit Maurice Green trainiert, und von London, wohin sie umgezogen ist.
"Nach London kann ich auch noch zurück, wenn ich nur Silber gewonnen
habe", sagt sie.
Sie habe schon oft gedacht, sie schaffe es nicht, antwortet Cathy
Freeman schließlich, "aber das ist alles nur Vorspiel. Der
400-Meter-Lauf ist für mich etwas rein Körperliches. Bin ich gesund
und stark, dann gewinne ich auch".
Klaus Brinkbäumer |