Die Traditionen der Aborigines weisen darauf hin, dass sie seit ihrer Existenz immer
schon in Australien gelebt haben. Es wird vermutet, dass sie aus Asien auswanderten und
schließlich vor 60 bis 40 Tausend Jahren nach Australien kamen. Diese Annahme wird durch
die Tatsache belegt, dass der Meeresspiegel zu dieser Zeit verhältnismäßig niedrig war
und dadurch zwischen dem asiatischen und dem australischen Kontinent eine nahezu
durchgehende Landbrücke bestand. Infolge eines Meeresspiegelanstiegs wurde dieser
Verbindungsweg später überflutet. Tasmanien wurde vor etwa 13'500 bis 8'000 Jahren
ebenfalls durch die Anhebung des Meeresspiegels vom australischen Festland getrennt. Die
hier beheimatete Bevölkerung erfuhr infolgedessen eine andere kulturelle Entwicklung als
die Bewohner auf dem australischen Festland.
In technischer Hinsicht war das Leben einfach. Die wichtigsten Gebrauchswerkzeuge waren
Speere und Blasrohre, Bumerangs, Nadeln, Spulen, Holzschüsseln, Wasserblasen aus
Tierhäuten, geflochtene Matten und Taschen aus Gräsern. Die Arbeitsteilung erfolgte nach
Geschlecht: Männer jagten große Tiere, Frauen sammelten essbare Früchte und
Pflanzenteile und gingen auch auf die Jagd nach Kleintieren.
Im Kontrast zu der relativ unkomplizierten Struktur des wirtschaftlichen Lebens und der
Technik entwickelten die australischen Aborigines eine komplexe Sozialstruktur und eines
der umfangreichsten Glaubensgefüge, das sämtliche Lebensbereiche mit einbezog. Ihre
Weltauffassung drehte sich um die Traumzeit, ein kompliziertes
und allumfassendes Konzept, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen
einbezieht und ebenfalls die Zeit der Erschaffung zum Anbeginn der Zeit umfasst, während
der mythische Wesen das Land formten.
Die Grundwerte der Aborigines beinhalteten Selbstlosigkeit und die pflichtbewusste
Erfüllung sozialer und religiöser Verpflichtungen. Status war von Besitztum unabhängig,
das nur wegen seiner besonderen religiösen Bedeutung geschätzt oder aufgrund seiner
praktischen Nutzungsfähigkeit bedeutungsvoll war. Der Handel spielte eine bedeutende
Rolle, und der ganze Kontinent war von einem Netzwerk von Handelsrouten überzogen. Die
Handelsgüter waren häufig sehr seltene Objekte oder besaßen eine überragende soziale
oder religiöse Bedeutung, deren Funktion aus der Aufrechterhaltung und Förderung der
Bindungen und Harmonie zu anderen Gruppen bestand.
Als 1788 die erste europäische Siedlung entstand, hatten die Aborigines schon lange Zeit
den gesamten Kontinent bevölkert und genutzt, indem sie sich an die unterschiedlichen
geographischen und klimatischen Gegebenheiten von tropischen Regenwäldern über
niederschlagsreiche gemäßigte Landstriche bis zu den trockenen Wüsten angepasst hatten.
Es wird angenommen, dass die Bevölkerungszahl der Aborigines zu dieser Zeit zwischen 300
Tausend und einer Million Menschen lag und es über 200 verschiedene Sprachen gab. Die
Zahl der größten, deutlich ausgeprägten Bevölkerungsgruppen belief sich auf ungefähr
50, die in ihren jeweiligen Gebieten lebten und nach der von ihnen gesprochenen Sprache
benannt wurden. Ein nationales Identitätsbewusstsein war unbekannt. Gelebt wurde im
Eigenbewusstsein, das sich in den familiären und örtlichen Beziehungen und Gruppierungen
begründete.
Die Ankunft der Europäer entwickelte sich für die Aborigines zu einer Katastrophe. Die
Kommunikation zwischen den beiden Gruppen war lediglich minimal, und die Kluft zwischen
den unterschiedlichen Kulturen hätte fast nicht größer sein können. Nach einer
anfänglichen Zeit des gespannten Nebeneinanders wurden die Aborigines schon bald von den
fruchtbareren Küstenlandstrichen vertrieben und ins Landesinnere abgedrängt. Versuchtem
Widerstand wurde mit Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ruhe durch Gewalt begegnet, die
den Tod von einer großen Anzahl von Aborigines zur Folge hatten. Noch mehr starben jedoch
infolge von Krankheiten, die die Siedler ins Land eingeschleppt hatten. In Tasmanien und
im Südosten Australiens verschwand die Urbevölkerung nahezu vollständig, in allen
Teilen des Kontinents kam es im ersten Jahrhundert nach der Besiedlung durch Weiße zu
einem dramatischen Bevölkerungsrückgang. Aborigines, die diese extreme Entwicklung
überstanden, wurden häufig zu Opfern brutaler Misshandlung oder so genannten
Zivilisierungsversuchen durch Missionare unterworfen. Mitte des 19. Jahrhunderts nahm man
allgemein an, dass die Aborigines als Kultur und vielleicht auch als eigenständige Rasse
schnell verschwinden würden. Diese Annahme wurde durch die Statistik bestärkt, denn 1920
belief sich die Zahl der Aborigines schätzungsweise auf nur noch 60000 Menschen.
Bis zu den sechziger Jahren lebte die verbleibende Urbevölkerung vorwiegend in
ländlichen Gegenden. In den darauf folgenden zwei Jahrzehnten übersiedelten jedoch immer
mehr von ihnen in die Stadtgebiete, wobei die Hauptstädte der Bundesstaaten und die
größeren Provinzstädte besonders starken Zustrom erhielten. Die Zugezogenen wurden von
der europäischen Mehrheit häufig misstrauisch empfangen und schlossen sich oft zu
kleinen, äußerst unbeständigen und ghettoartigen Gemeinschaften zusammen. Sie dienten
dem zunehmenden politischen Bewusstsein als Nährboden, das in den sechziger Jahren
innerhalb der Bevölkerungsminderheit der Aborigines entstanden war. Zu dieser Zeit waren
das soziale Ansehen und die politische Bedeutung der Aborigines so gering, dass man sie
bis 1971 noch nicht einmal in den Volkszensus mit einschloss, und ein Referendum 1967
ermächtigte die australische Staatsregierung erstmals, politische Entscheidungen für
Aborigines zu treffen und sie bei Volkszählungen einzubeziehen. Die anfängliche
Besorgnis hinsichtlich der Lohngleichheit und zivilrechtlichen Gleichstellung wich schon
bald einer rechtlichen Inanspruchnahme von Land mit besonderer kultureller und religiöser
Bedeutung.
Bei der Volkszählung von 1991 wurden 238'492 Aborigines und 26'902
Torres-Strait-Insulaner gezählt, die häufig einfach in die ethnische Gruppe der
Aborigines eingeordnet und nicht als eigenständige Gruppe betrachtet werden. Dieser
beeindruckende Anstieg im Vergleich zu den Zahlen aus den zwanziger Jahren ist nur
teilweise das Ergebnis von höheren Geburtenraten und ist auch auf die Wiederentdeckung
der eigenen Identität zurückzuführen. Nur bei einer kleinen Minderheit der als
Aborigines erfassten Bevölkerungsgruppe handelte es sich um reine Aborigines.
Die größte Konzentration von Nachfahren der Aborigines lebt heute in New South Wales und
Queensland (jeweils 26 Prozent der australischen Gesamtbevölkerung der Aborigines),
Western Australia (15,7 Prozent) und im Northern Territory (15 Prozent). Über 70 Prozent
wohnen in städtischen Gebieten. Die traditionelle Lebensweise der australischen
Ureinwohner ist ungeachtet der Tatsache, dass es zu einem Anstieg des Interesses an dem
komplexen Lebenskonzept der Aborigines gekommen ist und mittlerweile auch in Schulen über
die Kultur der Aborigines gelehrt wird, stark bedroht. In den neunziger Jahren schätzte
man die Zahl der zur Bevölkerungsgruppe der Aborigines gehörenden Menschen, die mit der
traditionellen Lebensweise ihrer Kultur (die vor allem noch im Northern Territory mit der
vorwiegend ländlichen Bevölkerung vorherrscht) direkten Kontakt haben, zuletzt auf nur
noch ungefähr 10000.
Jede Region Australiens wird durch einen eigenen Landrat der Aborigines vertreten, und in
den meisten Regionen gibt es Zentren und Festivals, die diese besondere Kultur würdigen.
Die ethnische Identität der Aborigines drückt sich mittlerweile auf unterschiedliche Art
und Weise in der Kunst, Popmusik, Literatur, Politik und im Sport aus. Die ethnische
Gruppe der Aborigines konnte einige rechtliche Siege erringen, bei denen es vor allem um Landrechte ging. Aborigines konnten sich das Eigentumsrecht
über ausgedehnte Landstriche im Norden und im zentralen Bereich Australiens sichern.
Gleichzeitig sind sie jedoch immer noch mit beträchtlichen sozialen und wirtschaftlichen
Nachteilen konfrontiert. Nicht nur hinsichtlich der durchschnittlichen Lebenserwartung
sind sie im Vergleich zur australischen Bevölkerung stark benachteiligt. Probleme wie
Arbeitslosigkeit, niedrige Familieneinkommen, die Abhängigkeit von Sozialleistungen und
die Kindersterblichkeitsraten sind sehr viel ausgeprägter und akuter als in der
Gesamtbevölkerung, obwohl in den vergangenen Jahren Unterstützungsmaßnahmen getroffen
wurden und man die Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen sowie die Gesundheitsvorsorge
durch zusätzliche Zahlungen gefördert hat. Angesichts des Mabo-Urteils zu
Landansprüchen der australischen Ureinwohner und der daraus hervorgegangenen Gesetzgebung
scheint es jedoch wahrscheinlich, dass das Verhältnis zwischen Ureinwohnern und weißer
Bevölkerung einen Wandel zum Positiven erfährt. |